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Ensemble Leones
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Ossi-Renaissance

 

Oswald von Wolkenstein war ein Mann von eher rauhen Umgangsformen. So sah er auch aus, so ließ er sich malen, schonungslos: mit Bartstoppeln, Narben, dem lebenslang geschlossnen Auge. Er sah eher wie ein Raubritter aus als eine hehre Erscheinung im romantischen Sinne des Rittertums. Dieser Eindruck wird vermittelt, verstärkt durch etliche seiner Liedtexte. Bei deren Präsentation ging man kurzschlüssig davon aus: Dieses Rauhbein, dieser Dichter vielfach drastischer Formulierungen muss auch musikalisch rauh gewesen sein, eine Art Kneipensänger im Burgen-Ambiente, schrumm, schrumm.

 

Ganz langsam, über viele Jahre hinweg, setzte hier Umdenken ein. Ergebnisse sind auf dieser CD zu hören. Der Mann von niederem (südtiroler) Adel, der Sänger, Instrumentalist, Tonsetzer (so hätte man früher gesagt), er war nicht nur als Söldner mit von der Partie auf Feldzügen zwischen Nordeuropa und Nordafrika, er war allem Neuen aufgeschlossen, vor allem in der Musik. In meist südlichen Ländern, an diversen Höfen Darbietungen von Kollegen hörend, griff er neue und allerneuste Entwicklungen auf, und das war vor allem: Polyphonie.

 

Hier übernahm er musikalische Vorlagen für seine neuen Texte. Komponierte sie offenbar auch selbst. Auch in dieser Hinsicht: weniger ein Mann des späten Mittelalters als der frühen Renaissance. Und so hört sich in diesen neuen Einspielungen vieles entschieden anders an als bisher weithin gewohnt. Selbst einstimmige Liedsätze: artifiziell.

 

An einem Lied dieser CD wird das besonders deutlich: „Durch aubenteuer tal und perg“ (Kl 26, Track 04). Was Marc hier singt, sich auf der Laute begleitend, ist einer von Oswalds drastischen Texten. Der Erlebnisbericht einer Flucht, einer Verhaftung, einer Haftzeit. (Die Übertragung ab Seite 253 der 2011 erschienenen Neufassung meiner Wolkenstein-Biographie)[1].

 

In diesem Liedtext nahm der Dichter wahrhaftig kein Blatt vor den Mund. Doch was wir hören, steht auf einem ganz andren Blatt. Das Rauhe wird gleichsam gefiltert im musikalischen Medium, wird verfeinert. Es findet musikalische Überhöhung des Drastischen statt. Die von Oswald genau kalkulierten Melismen, zum Beispiel: Nicht mehr eine bisher wohl eher achselzuckend zur Kenntnis genommene Zugabe zur Monophonie, sondern ein stilbildender Faktor. Das rauh und drastisch Formulierte wird musikalisch beinah subtil artikuliert. Eine Metamorphose findet statt, es verschmelzen Intentionen des Dichters von Liedtexten mit Intentionen des Tonsetzers, der aktuelle Entwicklungen adaptierte und umsetzte. In der Personalunion von Wortsetzer und Tonsetzer findet Transformation statt. So passt auch das scheinbar schlichte Lied in den Gesamt-Klangraum oft erlesener, subtiler Polyphonie.

 

Wir müssen den Wolkensteiner anders sehen, wenn wir ihn hier hören. 

 

Dieter Kühn

 


[1] Kühn, Dieter: Ich Wolkenstein. Die Biographie (Erweiterte Neufassung), Frankfurt/Main (Fischer Taschenbuch Verlag) 2011 (= Das Mittelalter-Quartett: Viertes Buch).

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